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Herzlich Willkommen!
Unser Fluß war der Hudson River. Wir haben ihn in seiner ganzen Länge verfolgt, wir sind an beiden Ufern entlanggefahren, oft nah am Wasser, nie habe ich ihn anders gesehen als mächtig in seiner Breite und grau von den Schatten seiner bewaldeten Ufer, grau von dem Schlamm, den er von dem fruchtbaren Hügelland seines Oberlaufs mitnimmt. Wir sind an seinen steinigen Ufern gesessen, jede Stadt an seinem Unterlauf hat ihre Parks mit Holztischen und Bänken für Picknicks, ihren Kinderschaukeln, Sandkisten und Abfallkübeln am Ufer, Irvington, Poughkeepsie, aber er ist kein Fluß, an dem man die Kinder allein spielen läßt, kein Fluß zum Baden, er ist ein fremder Riese auf der Durchreise, der kalt und streng seine Schneise durch die Berge schlägt, und nur selten spannen sich leicht gewölbte Brückenkonstruktionen über ihm aus, einschüchternde Stahlfesseln aus nächster Nähe, spinnwebenleichte Spitzenmuster aus der Ferne. Irgendwo zwischen Tarrytown und Irvington weitet der Hudson sich zum Meeresarm, verliert seine Strömung, drängt die Wälder zurück, und die Segelboote und Bojen tanzen auf seinem geriffelten Wasser, als gäbe es keinen Flußlauf mehr, nur diesen großen See zwischen den Felsen und der Metropole in der Ferne, unentschlossen, wohin er sich von der Strömung ziehen läßt. Als wohne man einem Unheil bei, so sieht man seinem Ende entgegen, die taubengraue Skyline von Manhattan steht am Horizont wie ein schwacher Damm. Das freie Auge kann nicht erkennen, wo sich das Salzwasser in den Schlammfluten auflöst und das Süßwasser sich mit dem Atlantik vermischt. Es ist kein abruptes Ende, es ist wie ein Aufgeben, als schwänden die Kräfte, die ihn zur Mündung treiben, und er ließe die salzigen Wassermassen des Atlantiks ohne Widerstand tief in sein weit offenes Bett. Auch der Tod eines Flusses ist furchterregend. Leonard, warum gehst Du nicht dorthin zurück, ins Hudson-Tal, nach Saratoga, nach Amerika? Du sagst, Amerika sei Dir fremd geworden, Du verstehst es nicht mehr, Du liebst es nicht einmal. Aber Du hast seit dreißig Jahren Heimweh, ich höre es in Deiner Stimme, wenn Du vom Hudson redest oder wenn Du sagst, wie sehr das Meer Dir fehlt. Ich spüre es, wenn ich Dich besuche, wie fehl am Platz Du Dich fühlst. Du rufst Dir seine Kindheitslandschaften wach, und es ist wie ein Besuch zu Hause. Der Hudson River an seinem Oberlauf, dort, wo er bereits ein gezähmter Fluß ist und sogar Inseln in seinem Bett stehenläßt. Du hast Dir dieses Haus auf dem Hang über der Donau gekauft, weil sie Dich da, kurz vor Budapest, an den Hudson bei Albany erinnert. Dort kann man von seinem Ufer den braunen Wellen und Kreiseln der Stromschnellen zusehen, wenn die tiefstehende Sonne Lichtfunken über das Wasser springen läßt. Ich habe ein Foto von Dir, von dem ich nicht mehr genau weiß, wo ich es aufgenommen habe. Da sitzt Du auf einer ramponierten Parkbank an einem Flußufer, einem Stück Wiese mit tief herunterhängenden Weiden und einem schmalen Strand mit runden, vom Wasser abgeschliffenen Granitfelsen. Du schaust nicht in die Kamera, Du scheinst gar nicht zu merken, daß ich Dich durch die Linse beobachte. Du blickst auf das Wasser mit einer resignierten Traurigkeit. Ich habe überlegt, ob Du schon so grau und müde ausgesehen hast, als wir das letzte Mal zusammen am Hudsonufer in Poughkeepsie waren. In Albany, nahe der Universität, eine halbe Stunde vom Hudson entfernt, war diese Galerie mit schlechter zeitgenössischer Kunst, Vernissagebesucher standen mit Weingläsern herum, und ich wollte gerade gehen, zum Fluß hinunter, bevor die Sonne unterging. In jeder Stadt suche ich das Wasser, um mich zu orientieren. Du kamst auf mich zu, feingliedrig, dunkelhaarig und aus heutiger Sicht unvorstellbar jung, verbeugtest Dich wie ein freundlicher Diplomat und sagtest, Welcome to America. Du warst zu Hause, und ich war der Gast, Du standest genau dort, wo Du hingehörtest, im Mittelpunkt Deiner Welt, zwanzig Meilen von Saratoga entfernt, wo Du aufgewachsen bist. Jeder von uns beiden hat im Lauf der Jahre den anderen gefragt: Wäre es Dir lieber, wir wären aneinander vorbeigegangen unter den scheußlichen Bildern der Galerie in Albany? Aber manchmal bedarf es nur eines leichten Luftzugs, als sei das Leben ein Staubkorn in einer zugigen Gasse. Wir waren jung, voll Furcht und Erwartung, damals konnte von jeder zufälligen Begegnung die Zukunft abhängen. Du nahmst Deinen ganzen Mut zusammen, mich anzusprechen, und dann warst Du zu nervös, mir zuzuhören. Es war kein rechtes Gespräch, das wir führten, es war, als stünden wir in einem elektrischen Feld, in dem es darauf ankam, mit den richtigen Sätzen seine Haut zu retten. Deine unruhigen Augen suchten einen Fluchtweg, und es gelang ihnen erst, meinem Blick zu begegnen, als wir auf Dinge zu sprechen kamen, bei denen Du Dich auskanntest. Während Du mir mit lebhafter Intensität von Deiner Dissertation über die Figur des Außenseiters bei Herman Melville erzähltest und Deine Nervosität vergaßt, sah ich, daß Du sanfte graugrüne Augen mit langen, gebogenen Wimpern hattest und daß die Knochen unter Deinem ein wenig zur Pausbäckigkeit neigenden Gesicht fein wie die Linien einer Alabastergemme waren. Wußten Sie, daß Herman Melville als Jugendlicher in der Market Street, zwei Straßen weiter westlich von hier gewohnt hat, fragtest Du mich unvermittelt, und auf meinen erstaunten Blick erklärtest Du: Vor drei Wochen habe ich meine Dissertation über Außenseiter in seinem Prosawerk eingereicht. So begann unser erstes Gespräch. Warum über Außenseiter? fragte ich, und schon war meine Bereitschaft, Dich zu bestaunen, geweckt. Als hätten wir damals die geringste Ahnung gehabt, wovon wir redeten. Wir waren keine fünfundzwanzig und parlierten über Marginalisierung. Wie leicht es uns damals fiel, über Dinge zu reden, die andere schon gedacht und aufgeschrieben hatten. Aber da muß eine Ahnung gewesen sein, etwas wie ein Schatten am Ende des Weges, eine atmosphärische Verdichtung, die uns neugierig machte und anzog. Vom Ende her paßt alles ineinander wie die Teile der vielen Puzzles, die unser Sohn später mit so viel Leidenschaft legen sollte, lange bevor er die Welt um sich herum verstand. Auch er gehörte von Anfang an zu diesem komplizierten Muster, das sich um uns schloß, als wären wir die verborgenen Figuren in einem Suchbild. Du gabst mir Deine Dissertation bald darauf zum Lesen, warfst Dich in Pose und deklamiertest einen aus dem Zusammenhang gerissenen Satz. Ist das nicht genial? riefst Du begeistert. Du warst damals von Deiner Klugheit sehr überzeugt. Was hat Melville außer »Moby Dick« noch geschrieben, erkundigte ich mich. Wer nie versagt hat, dem fehlt es an Größe, entgegnetest Du mit einem Zitat statt mit Buchtiteln. Dann recktest Du ein wenig kokett das Kinn, wie Du es jedesmal vor der Kamera machst, als wolltest Du fragen, was sagst du nun dazu. Das schrieb er als Dreißigjähriger, belehrtest Du mich, das muß man sich vorstellen. Du hattest manchmal eine an Pedanterie grenzende Ernsthaftigkeit an Dir, die mich irritierte, und zugleich etwas Widerspenstiges, das mich anzog. Wir waren beide so voller Unsicherheiten und versuchten sie mit prahlerischem Selbstbewußtsein zu überspielen. Und wie alt sind Sie? fragtest Du unvermittelt, als erwartetest Du, daß jeder ab einem bestimmten Alter mit Lebensweisheiten aufwarten müsse. Ich sagte, noch nicht alt genug für Aphorismen. Wir lachten, und Du fandest einen Vorwand, mich zu berühren. Ich mochte Deine verschmitzte Art, peinlichen Situationen und Sätzen mit Ironie die Spitze zu brechen. Noch hätte ich mich verabschieden und gehen können, aber statt dessen folgte ich Dir auf die Straße und in ein Restaurant, wo ich zu Deinem Erstaunen ein Roastbeefsandwich mit Messer und Gabel traktierte. Und in den nächsten Tagen liefen wir uns ständig über den Weg, wir legten es beide darauf an, einander wie zufällig zu begegnen. Ich glaube nicht, daß ich mich damals in Dich verliebt habe, aber ich erinnere mich, daß ich in Deiner Gegenwart auf eine ganz neue Art glücklich war. Unsere Liebesgeschichte begann erst viel später, vielleicht fand sie überhaupt nur in unserer Phantasie statt oder zu ganz verschiedenen Zeiten, so daß uns beiden immer nur Erwartung und Enttäuschung blieb. Du lerntest Deutsch, und mein Englisch wurde idiomatischer, aber dennoch meinten wir oft ganz verschiedene Dinge, wenn wir glaubten, dasselbe zu sagen. Manches, wovon der andere sprach, kam von so weit her und ging so tief in eine unvorstellbar fremde Vergangenheit zurück. Wie wenn man an einem bestimmten Abschnitt eines Flusses steht und hinunterblickt, und doch nicht das Geringste über ihn wissen kann, nichts über seinen Ursprung und nichts von seiner Mündung. Am letzten Abend vor meiner Abreise gingen wir am Hudson River entlang bis zu der mächtigen Highwaybrücke, ein desolates Ufer aus Beton und Industrieanlagen, der Fluß schimmerte wie ein blinder Spiegel in einem dunklen Zimmer, es war Mitte Oktober, fast zur gleichen Jahreszeit, zu der vor hundertvierzig Jahren das Kind Herman Melville mit seinem Vater an einem Anlegeplatz, den es nicht mehr gibt, an Land ging. Auch Melvilles Fluß war der Hudson River, breit und träge und für das kindliche Auge uferlos, der am östlichen Ende der Cortlandt Street in Manhattan, Hermans Elternhaus so nahe, gegen die Planken der Docks klatschte. Er war das Erste, das für Herman als Kind Wasser bedeutete. Wasser, keine zwei Meilen von der Haustür entfernt, tiefes, unüberschaubares Wasser, das das Land entzweischnitt, an dem die Schiffe anlegten und Luxusgüter aus Frankreich brachten. Damals war sein Vater noch der mächtige Herr über Frachtschiffe und Lagerhäuser, und der Hudson River war Umschlagplatz zwischen dem Bekannten und der märchenhaften Ferne, von der alle Geschichten handelten, die er zu Hause hörte, denn sein Vater war ein begabter Erzähler, es fehlte ihm auch nicht an Talent zum Essayisten, doch seine unstillbare Rastlosigkeit trieb Allan Melville immer von neuem über den Atlantik. Er führte über seine Reisen akribisch Tagebuch, in dem er neben Reflexionen über die moralische Erziehung des Menschen die Seemeilen in Tagen und Stunden notierte, voll nervöser Ungeduld, als ahne er, wie wenig Zeit ihm blieb. Könntest Du Dir vorstellen, hier zu leben, fragtest Du mich damals in einem Ton, als sei dieser Ort niemandem zuzumuten. Als Du mich zum zweitenmal fragtest, ob ich mir vorstellen könnte, im unwirtlichen Winter von Upstate New York in einer von den Sommertouristen verlassenen Kleinstadt mein Leben zu verbringen, schwang in Deiner Stimme die Hoffnung mit, daß ich es mir Dir zuliebe zumuten würde. Das war ein Jahr später und achtzehn Meilen nördlich von Albany, nachdem Du mich Deiner Familie beim Thanksgiving Dinner präsentiert hattest. Ich war bereit, meine ganze Vergangenheit zurückzulassen. Sie war ein überflüssiges Gewicht, das mich bei jeder Bewegung, bei jedem Schritt belastete, und das, was andere Wurzeln nennen, worauf sie sich etwas zugute tun und das sie um jeden Preis bewahren wollen, bedeutete mir nichts. Dennoch sagte ich, nein, überall, fast überall, nur nicht hier, jedenfalls nicht für den Rest des Lebens. Die Nacht des neunten auf den zehnten Oktober 1830 muß es gewesen sein, die bange Nacht auf dem Hudson River, die den ersten Schatten von Bitterkeit, eine Ahnung des Ausgesetztseins auf Melvilles Leben warf. Mein Name sei der eines in die Wüste Verstoßenen. Nennt mich Ishmael. Es war nicht bloß eine Nacht, in der ein heftiges Gewitter das Auslaufen der Schiffe verhinderte, es war das Ende von Melvilles Kindheit, und er war erst elf Jahre alt. Mit elf Jahren kann man sich noch nicht vorstellen, daß einem alles, was bisher selbstverständlicher Lebensraum war, das große Stadthaus mit den eleganten Möbeln, alter holländischer Familienbesitz und Importware aus Paris, in einer einzigen Nacht weggenommen werden kann. Die Mutter mit den Geschwistern und dem wertvollen Hausrat hat schon vor Tagen den Fluchtweg nach Albany eingeschlagen. Jetzt ist er allein mit seinem Vater in der Kajüte, und er fühlt sich wie Jonah im Bauch des Wals, verschlungen und festgehalten, während die Wasser über ihm zusammenschlagen. Du erinnerst Dich sicherlich an die Predigt von Father Maple über Jonah und den Wal. Lies sie mit dem Blick auf die Nacht auf dem Hudson: Sein Vater verstohlen, den Hut tief ins Gesicht gedrückt, wie ein gewöhnlicher Dieb, der sich vor seinen Gläubigern davonstiehlt, sein Onkel sitzt im Schuldgefängnis von Pittsfield, und auch Allan Melville hat genug unbezahlbare Schulden angehäuft und den Landlord um die Miete der letzten Monate geprellt. Wo ist sein Gepäck? Es sind nur die letzten zusammengerafften Habseligkeiten, die vom großen Auszug am Vortag übriggeblieben sind, der Rest ist in Sicherheit. Nicht einen einzigen Freund hat er, der auf der Pier von ihm Abschied nimmt, nur den elfjährigen Sohn, der die Angst des Vaters spürt und auch, daß die Flucht mit Versagen und Schuld zu tun hat, aber von jetzt an wird Melville alles, was er erlebt, treffen, als hätte er Anteil an der Schuld anderer und werde an ihrer Statt bestraft. Noch ist der Vater kein Geächteter, sondern ein angesehener Importeur und Großhändler, ein Aristokrat der jungen Republik, ein Kosmopolit, der fließend Französisch spricht, mit achtundvierzig Jahren immer noch gut aussehend mit dunklen, nach vorn gekämmten Locken und modischem doppelreihigem Frack, und er gibt sich selbstbewußt, aber er täuscht damit nicht sich selbst und auch nicht mehr seinen Sohn. Gewiß bleibt er selbst auf der Flucht ein Gentleman mit makellosen Manieren, man muß ja nicht die Manieren zusammen mit seinem Besitz verlieren. Und nun läuft das Schiff nicht vor dem Morgen aus, eine ärgerliche Verzögerung für den Kapitän und die Passagiere, aber was ist schon die Verzögerung einer Nacht für einen, der nicht fürchten muß, daß ein Gläubiger das verlassene Haus betritt und seine Häscher aufs Dampfschiff schickt, das auf Dock zweiundachtzig vor Anker liegt. Eine ganze Nacht Verzögerung sind für den gehetzten Schuldner zwölf Stunden in endlosen Minuten gemessen, während er ruhelos auf Deck hin und her geht oder sich in der Kajüte verbirgt und es nicht erwarten kann, einige hundert Meilen Fluß zwischen sich und seine Gläubiger zu legen. Die ganze Nacht liegt er wach in der Schiffskabine, wartet, daß der Anker gelichtet wird und das gleichmäßige Geräusch der Schiffsturbine den Hudson hinaufstampft. Die dunkle Täfelung umschließt ihn wie ein Sarg. Decke, Bordwand, Fußboden schaukeln im seichten Wasser. Es ist wohl möglich, daß Allan Melville nach Luft ringt wie Jonah im Bauch des Wals, gemartert von seiner Angst, die er dem Sohn nicht mitteilen kann, halb wahnsinnig vor Selbstvorwürfen und dem Wissen um seinen Ruin, zur Reglosigkeit in der engen Koje verurteilt, sich hin und her wälzt wie im Delirium und sein Schicksal verflucht. Und der Elfjährige, der ihn bisher nur als großzügigen, in seiner Selbstgewißheit ruhenden Menschen kannte, der ihn liebt trotz aller Strenge, mit der der Vater ihm mehr abverlangt, als sein schwerfälliger Verstand zu leisten vermag, fühlt sich zum erstenmal allein gelassen mit den Dämonen, die den fremd gewordenen Vater bedrängen. Zum erstenmal erlebt er, daß nichts so ist, wie es den Anschein hat, und daß sich alles verwandeln kann. Das stolze Oberhaupt der Patrizierfamilie, dem er bei aller Bewunderung nie hatte genügen können, weil er ihm zu wenig ähnelt, verwandelt sich vor seinen Augen in einen gebrochenen Flüchtling. Als der Dampfer ablegt, an einem von nächtlichen Gewitterregen gereinigten Tag, an dem sich New York kühl und wie vor Morgenfrische funkelnd aus der Nacht erhebt, fallen die nächtlichen Höllenvisionen von Allan Melville ab. Das Schiff fährt in der Mitte des Stroms flußaufwärts, an dem nach dem Großvater benannten Fort Gansevoort und an den Elysischen Gefilden von Hoboken vorbei, und in der Morgenbrise angesichts der sich bereits verfärbenden Laubwälder an beiden Ufern wächst Allans Zuversicht, daß alles gutgehen wird, daß es einen Neubeginn geben wird und sie gerettet sind. Die Fahrt dauert über zwanzig Stunden. Gegen Mittag des elften Oktober erreichen sie das Stadtzentrum von Albany, das holländische Haus aus blaßroten Ziegeln mit Repräsentationsräumen, in denen General Lafayette zu Gast gewesen war, ein Patrizierhaus mit allem Prunk alten Geldadels, der sich mit dem jungen Ruhm und den Pfründen der Revolutionshelden verbunden hat. Das Elternhaus seiner Mutter kennt Herman Melville besser als die Häuser in New York, die seine Eltern in rascher Folge mieteten und wieder verließen. Es war ihm elf Jahre lang Zufluchtsort vor der feuchten Augusthitze und dem Gestank der offenen Kloaken von Manhattan gewesen. Der jährliche Exodus aus der Stadt ist Privileg der Wohlhabenden. Mit sechs Wochen hatte er seine erste Reise flußaufwärts gemacht, und jedes Jahr, jeden Sommer, wenn in den Slums von Manhattan die Cholera ausbrach, bestieg Maria Melville ein Schiff und floh mit den Kindern auf dem Hudson nach Norden, nach Hause, wo sie Freundinnen hatte und wo die Ortschaften und Landgüter, ganze Landstriche nach ihren Verwandten und Vorfahren benannt waren: Van Rensselaer, Van Vechten, Van Schaick, Schuyler County. Und während sie sich im Kreis der Familie erholte, blieb Allan in New York und vermehrte mit jeder Geschäftstransaktion seine Schulden. Und nun ist die sorglose Pendelbewegung rastlosen Reisens zwischen der Flußmündung und den Hügeln und Wäldern der Catskills und Adirondacks zum Stillstand gekommen. Die Armut reist nicht, die Armut ist auf der Flucht ohne Rückkehr, und sie sind noch lange nicht am tiefsten Punkt angelangt. Diesmal werden sie auch nicht gastlich empfangen. Die Großmutter liegt im Sterben, und die zehnköpfige Familie des notorischen Verschwenders und Taugenichts ist nicht mehr willkommen auf dem Familiensitz der Gansevoorts. Sie ziehen in ein Mietshaus in der Nähe, erstes sichtbares Zeichen des sozialen Abstiegs. Von dort schreibt sein Vater Briefe und verspielt den Rest des Erbes seiner Kinder, mit einer Maßlosigkeit, als fordere er nur, was ihm zustünde. Aber den Hudson, dort, wo er sich zum Meeresarm weitet, wird Herman nun lange nicht wiedersehen. Der Hudson River blieb Melvilles Fluß. Sogar auf der Reise den Bosporus hinauf sechsunddreißig Jahre später erinnert er sich an die Flußfahrten seiner Kindheit. Der Aufbruch mit dem Schiff, mit dem Segelschiff, mit dem Ozeandampfer wurde ihm zum Lebenselement, zum Elixier gegen die Schwermut, zum Zeitmesser, der Ebbe und Flut seines Lebens regulierte. Solange er lebte, waren die Gezeiten das Pendel, die Unruhe, und auch der Bauch des Leviathan, der ihn gefangen und geborgen hielt. Wir haben in den Jahren, in denen wir zusammenlebten, so oft über Melville gesprochen, als müßten wir uns dabei über uns selber Rechenschaft geben. Wir konnten uns nie einigen, ob er uns sympathisch gewesen wäre und ob er stets ethisch gehandelt hatte, denn das war uns wichtig. Wir schämten uns seiner Fehler, als seien wir an ihnen schuld oder als seien es unsere eigenen. Immer hegten wir die Hoffnung, in seinem Werk oder in seinem Leben Erfahrungen zu finden, die uns betrafen. Wir brauchen manchmal etwas, das ein anderer für uns schon geordnet hat, um unser eigenes Leben zu verstehen. Ich zweifle nicht, daß Du mit Deinem erstaunlichen Gedächtnis für Details und Zahlen mehr Fakten über Melville gesammelt hast als ich. Ich begriff nie, wie Du Dir seitenlange Zitate merken konntest. Statt im Telefonbuch zu suchen, habe ich Dich gefragt, viele Jahre wußtest Du sogar noch nutzlose Telefonnummern in Städten, die wir längst verlassen hatten. Zusammen wollten wir die große Melville-Biographie, die wir gerne gelesen hätten, verfassen. Am Anfang war es uns ernst damit, und später wollten wir es uns nicht mehr eingestehen, daß sich unsere Arbeit im Sammeln von Daten und in den Spekulationen unserer abendlichen Gespräche erschöpfte. Melville war uns zum Vehikel für etwas geworden, das wir zu verstehen suchten. Unter diesem Blickwinkel verloren allmählich auch die Fakten ihre Bedeutung. Es mußte nicht die Nacht auf dem Hudson gewesen sein, die Melville zu Bewußtsein brachte, daß er nicht zu den Erwählten gehörte, sondern zu den Verstoßenen, aber es lag nahe. Was wäre verwerflich daran, sich Trost zu holen von einem Leben, dem man seit langem nachforscht und das einem fast so vertraut geworden ist wie das eigene? Ich jedenfalls habe es nötig, mich ein wenig an der Glut eines fremden Lebens zu wärmen.
Autor: Mitgutsch, Anna
ISBN: 9783630872568
Sprache: Deutsch
Produktart: Gebunden
Verlag: Luchterhand
Veröffentlicht: 01.01.2007
Schlagworte: Österreichische SchriftstellerInnen; Werke (div.)
Anna Mitgutsch, 1948 in Linz geboren, unterrichtete Germanistik und amerikanische Literatur an ?sterreichischen und amerikanischen Universit?ten. F?r ihr literarisches Werk erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Solothurner Literaturpreis, den W?rdigungspreis (Staatspreis) f?r Literatur der Republik ?sterreich und das Ehrendoktorat der Universit?t Salzburg. Seit den siebziger Jahren ?bersetzt sie Lyrik und verfasste bisher zehn Romane, die in mehrere Sprachen ?bersetzt wurden. Bei Luchterhand erschienen die Romane ?Ausgrenzung? (1989), ?In fremden St?dten? (1992), ?Haus der Kindheit? (2000), ?Familienfest? (2003), ?Zwei Leben und ein Tag? (2007) und ?Wenn du wiederkommst? (2010) sowie zuletzt der Essayband ?Die Welt, die R?tsel bleibt? (2014).