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VORWORT ZUR DEUTSCHSPRACHIGEN AUSGABE VON KLAUS GROSSMANNJeremy Holmes gehört zu den ersten Psychotherapeuten, die den Nutzen von John Bowlbys Bindungstheorie für klinisches Arbeiten mit Patienten erkannt haben. 1993 erschien seine mehrfach nachgedruckte Darstellung der Bindungstheorie unter dem Titel John Bowlby und die Bindungstheorie. Das vorliegende Buch ist nun sein sehr lesenswerter Erfahrungsbericht nach weiteren 20 Jahren psychotherapeutischer Arbeit auf der Basis dieses Wissens. Holmes gliedert sein Buch in Prinzipien und Praxis. Die Prinzipien in Teil 1 zeigen, wie bindungstheoretisches Wissen psychotherapeutisches Tun vertieft und in einen stimmigen anthropologischen Zusammenhang bringt. »Mentalisieren«, sprachlich mitteilbare Gefühle, und wie sie das eigene Dasein beeinflussen, das steht dabei im Mittelpunkt. Das »Mutmaßen« (Assuming, Kap. 1) darüber ist empirisch fundiert, aktuell und leicht nachvollziehbar. Inzwischen weithin bekannte Forschungsmethoden, wie z. B. die Fremde Situation, werden nicht mehr ausführlich behandelt. Auch der Rekurs auf Bowlby als Autor der Bindungstheorie und auf Ainsworth, die Begründerin der empirischen Bindungsforschung, sind spärlich, weil inzwischen etabliert. Stattdessen werden die wesentlichen Einflüsse auf die durch die Bindungstheorie veränderten Wahrnehmungen von Anpassungsstörungen an ausgewählten Fallbeispielen dargestellt und im Zusammenhang mit Theorien von Bion, Winnicott, der ›frankophonen‹ Psychoanalyse und der Entwicklungspsychopathologie erörtert. Dies geschieht im 2. Kapitel, »Mentalisieren«, auf anschauliche Weise. Einflüsse auf die Entwicklung mehr oder weniger adaptiver Fähigkeiten zum Mentalisieren werden in den Kapiteln 3 »Binden« und offene Kommunikation, und 4, »Bedeuten«, der Schritt zu geteilten Vorstellungen als gemeinsame Erarbeitung autobiographischer Kompetenz, beschrieben. Dies erfordert einige Konzentration des Lesers, die sich auszahlt. Das therapeutisch angestrebte »Verändern« (Kap. 5) stützt sich zwar auf psychoanalytische Gedanken, gründet sich aber eindeutig auf Winnicotts spielerischer Kreativität, die in der bindungstheoretisch belegten Freiheit zu physischer und geistiger Exploration ihre empirisch fundierte Fortführung gefunden hat. Dazu gehört auch das »Reparieren« (Kap. 7), z. B. im Zusammenhang mit der Mutter-KindKommunikation, deren Gestörtheit nachweislich zu beeinträchtigender Desorganisation und zu Traumatisierung führen kann – ein wesentlicher Erkenntnisgewinn durch die dargestellten Prinzipien. »Befähigen« (Kap. 6) und »Reparieren« einer belasteten Beziehung (Kap. 7) betonen die kraftvolle Fähigkeit zum Erkunden der Welt sicherer Individuen. Im Mittelpunkt steht das »triangulierende Mentalisieren«, also die Fähigkeit, sich erfolgreich mit der Realität auseinanderzusetzen. Aber: Woher wissen wir, was real ist und was eingebildet, obwohl die Wirklichkeit immer durch den Geist gefiltert wird (das Paradox Kants)? »Die Realität von Therapie gestaltet sich allerdings weit komplexer und facettenreicher, als Theoretiker uns glauben machen wollen« (S. 121); Psychotherapie führt über mehrere Mechanismen zur Stärkung des Selbst. Dabei geht es auch darum, die besten Worte in der besten Reihenfolge zu finden, eine Domäne »poetischer« Literatur (Kap. 8: »Poetisieren«). Diese ist wichtig im Zusammenhang mit den kommunikativen Veränderungen von Mentalisierungen im Prozess psychologisch-analytischer Therapie. Psychische Sicherheit zeigt sich hauptsächlich in der Kohärenz der Geschichten (Narrativa) über sich und die eigene soziale Welt, vor allem bei dem angemessenen Wunsch nach menschlicher Nähe. Die Kehrseite von Bindung, Verlust, kann nur mentalisierend durch die Reparatur verlustbedingter belastender Konflikte bearbeitet werden, wodurch es gelingen kann, konstruktive internale Kohärenz zu erlangen. In der Kindheit beeinträchtigen solche und andere Brüche in der Feinfühligkeit und in der gemeinsamen Sprache die Fähigkeit zum Mentalisieren so stark, dass über zufällig häufig Symptome auftreten, die Borderline-Persönlichkeitsstörungen kennzeichnen. Teil 2 heißt »Praxis« und behandelt die Sexualität, Borderline-Störungen, den Suizid und Selbstverletzungen, das Träumen und das Beenden von Therapien. Kap. 9, »Sex mögen«, betrachtet Sexualität als »hedonische Intersubjektivität«. Erst kommt die Bindungsentwicklung, dann die sexuelle Entwicklung. Erfolgreiche Sexualität bedeutet optimale Partnerwahl, realitätsnahe Wahrnehmung der Intentionen und Qualitäten möglicher Partner durch Mentalisierung und die Fähigkeit zum wechselseitigen Genuss. Idealerweise führt die Entwicklung sexueller Attraktivität in eine langfristige Bindung – mit der Folge einer gemeinsamen elterlichen Investition in Nachkommen. Dazu hatte die Bindungsforschung bislang wenig zu sagen. Kap. 10 über »Borderline« (»Grenzgänger sein«) und 11 (»Suizid und Selbst-Verletzen«) stiften bindungspsychologische Zusammenhänge, die das Verständnis des psychischen Geschehens erhellen. Bei diesen Ausführungen zahlt es sich aus, auch den ersten Teil des Buches gelesen zu haben. Das trifft ebenfalls auf die Kap. 12 »Träumen« und Kap. 13 »Beenden« zu. Der Epilog fasst das Konzept einer bin dungstheoretisch informierten Psychotherapie in zehn Punkten zusammen.Welchen Einfluss haben die Erkenntnisse der Bindungsforschung? Das Wissen um diese Prozesse kann das Mentalisieren von Therapeuten und die Qualität ihrer Beziehung mit ihren Patienten tiefgreifend verändern. Warum und wie, das vermittelt uns Jeremy Holmes nach lebenslangen Erfahrungen im Rahmen bindungstheoretischen Wissens auf überzeugende Weise.VORWORT In den letzten zehn Jahren hat sich sehr viel getan für Forscher und Praktiker, die sich intensiv mit Bindung beschäftigen. Bedeutende Fortschritte auf theoretischer und empirischer Ebene sind zu verzeichnen. Mehrere bahnbrechende Arbeiten sind erschienen, die neueste wissenschaftliche Erkenntnisse und klinische Anwendungen zusammenführen (Cassidy und Shaver 2008; Wallin 2007; Fonagy et al. 2002; Brisch 2010; Carter et al. 2005; Obegi und Berant 2008). Besonders das Konzept der Mentalisierung (ausführlich erörtert in Kapitel 2) mit weitreichenden Auswirkungen auf die gesamte Psychotherapie ist dabei in den Vordergrund gerückt (Allen 2008). Gleichzeitig hat sich die Psychoanalyse einer Gewissensprüfung und Innenschau unterzogen, als deren Resultat neue Denkansätze zu erkennen sind hinsichtlich ihrer empirischen Beweisbarkeit (Leichsenring und Rabung 2008); der Anknüpfungspunkte mit den Neurowissenschaften (Zeki 2008); ihres wissenschaftlichen Profils (Wallerstein 2009), ihrer Kompetenzerfassung (Tucket et al. 2008; Roth und Lemma 2008) und der Modifizierungen zur Behandlung schwieriger Patienten (Bateman und Fonagy 2008). In diesem Buch versuche ich, diese neuen Entwicklungen im Bereich von Bindung und Psychoanalyse zu verknüpfen und sie in den Dienst einer Verbesserung täglicher klinischer Arbeit zu stellen. Der Buchtitel spiegelt einen der einfachsten und dennoch wichtigsten Grundsätze wider, die unsere Disziplin der Bindungstheorie verdankt: Unsichere Bindung und Exploration sind unvereinbar. Dieses Dilemma aufzulösen gehört zur Hauptarbeit des Therapeuten: Ein Hilfe suchender Patient oder Klient kann erst dann beginnen, sich selbst, seine Lebenssituation und seine Gefühle zu explorieren, wenn Sicherheit gegeben ist. Aber gerade die Unsicherheit veranlasst ja viele Menschen, sich in Therapie zu begeben. So entgegnete ein Patient auf Freuds (1912 e) Aufforderung, gemäß der psychoanalytischen Grundregel, »alles zu sagen, was einem in den Sinn kommt, ganz gleich wie irrelevant, peinlich oder unangenehm«: »Wenn ich das könnte, dann hätte ich Sie auch nicht aufgesucht.« Das Behandlungsziel der Psychotherapie schließt beides ein, Unsicherheit zu explorieren, woher sie rührt und wie sie sich auswirkt, und in Sicherheit zu explorieren. Der überwiegende Teil psychoanalytischer Arbeit, dem der klinische Teil des Buches Rechnung trägt, besteht aus der Auseinandersetzung mit eben dieser doppelten Zielsetzung. Für die Wahl meines englischen Untertitels »Towards an Attachment-Informed Psychoanalytic Psychotherapy« (Auf dem Weg zu einer bindungsfundierten psychoanalytischen Psychotherapie) bin ich Arietta Slade für ihre elegante Formulierung zu Dank verpflichtet (2008, S. 763): Bindungstheorie und -forschung haben das Potential, das Verständnis eines Therapeuten zu bereichern (anstatt ihm etwas zu diktieren); eher erweitert das Wissen um die Beschaffenheit und Dynamik von Bindung klinisches Denken und die Palette an Interventionen, als dass es diese vorschreibt. Im Sinne dieser leichten Zuspitzung erläutere ich im Folgenden eine spezifische Sichtweise psychoanalytischer Arbeit, inspiriert von der Bindungstheorie und dennoch verankert im breiteren psychoanalytischen Rahmen, besonders der relationalen, unabhängigen Schule. Als während der letzten fünf Jahre eine weitere psychoanalytische Psychotherapieausbildung etabliert wurde, ist mir klar geworden, wie viel mehr es als bisher erforderlich ist, die Grundlagen psychoanalytischer Technik und ihr Verhältnis zum theoretischen Überbau in den Mittelpunkt zu stellen. Freuds Schriften zur Behandlungstechnik (1912 e – 1915 a) sind, wenn auch nach wie vor unentbehrlich, mittlerweile 100 Jahre alt. Die Bindungstheorie kann mit ihrem Hauptaugenmerk auf die stetigen Veränderungen in intimen Beziehungen nicht unwesentlich zum Verständnis von Aspekten der Beziehung zwischen Therapeut und Patient beitragen, die psychische Genesung ermöglichen (und leider manchmal auch zu psychischer Krankheit führen). Die jüngsten Bemühungen des Britischen Department of Health (Roth und Lemma 2008), über Berufsbezeichnungen hinausgehend die eigentlichen psychotherapeutischen Fähigkeiten zu durchleuchten (einschließlich psychoanalytische Kenntnisse) – wie also Therapeuten im Behandlungsraum mit ihren Klienten tatsächlich umgehen und was sie zu ihnen sagen –, gehen in die gleiche Richtung wie mein Vorhaben.Psychotherapie: Kunst, Handwerk oder Profession? Psychotherapeuten diskutieren nur zu gern darüber, was ihre Disziplin nun eigentlich sei, eine Kunst oder eine Wissenschaft (Holmes 1992) – ein schließlich verworfener Titel für dieses Buch lautete: Was machen Psychotherapeuten den ganzen Tag? Die beste Sichtweise bietet vielleicht die Deutung als Handwerk (s. a. Sennett 2008), das sich sowohl auf Kunst als auch auf Wissenschaft beruft und trotzdem von diesen beiden gut zu unterscheiden ist. Handwerk hat mehrere für die Psychotherapie wichtige Merkmale. Erstens kann man es nicht durch Bücherstudium allein erlernen – was jeder bestätigen kann, der einmal versucht hat, das Skifahren, das Tischlern oder ein Musikinstrument zu beherrschen. Zweitens erfordert jedes Handwerk eine Ausbildung – Beobachten und Üben unter der Anleitung oder Aufsicht eines »Meisters«. Drittens ist das Handwerk größtenteils, im Gegensatz zur Wissenschaft oder zur Kunst, zumindest in seiner Ausprägung in kapitalistischen Gesellschaften, nicht wettbewerbsorientiert. Wir verehren Meistergärtner oder Chefköche, versuchen ihnen nachzueifern und von ihnen zu lernen, aber ohne dass dabei der Wert unserer eigenen gärtnerischen oder kulinarischen Bemühungen, wie bescheiden auch immer, geschmälert würde. Es liegt an jedem selbst, Garten oder Küche zu kultivieren, ganz nach eigenen Fähigkeiten und Ressourcen. In gleicher Weise verdient jede Psychotherapeut-Patient-Beziehung ihren Respekt, ganz gleich, wie sehr sie sich von den hehren Idealen der psychoanalytischen Gründungsväter unterscheidet oder sie gar verfehlt. Viertens bilden Handwerksleute in aller Regel relativ homogene Gemeinschaften, Zünfte, Gilden oder Zusammenschlüsse von unterschiedlich esoterischem Charakter mit ihren eigenen Ritualen (Aufnahme, Prüfungen, Verabschiedung in den Ruhestand), Wertvorstellungen, eigenem Ethos und traditionellen Bräuchen. So impliziert »handwerklich gewieft«, zumindest in seinem modernen Gebrauch, Feinsinn, Geschmack und Geschicklichkeit und gelegentlich ein wenig Angeberei oder harmlosen Schwindel. Das öffentliche und private Erscheinungsbild der Psychotherapie wird in ganz passender Weise in der sprachlichen Dichotomie von Handwerk und Profession widergespiegelt. Das einsilbige angelsächsische »craft« (Handwerk) entspricht dem deutschen Wort für Macht, Fähigkeit oder Geschick. Das Lateinische »pro-fession« kommt vom öffentlichen Glaubensbekenntnis, das die Kirche ihren Bittstellern abverlangte. Viele moderne Berufsbilder sind aus Handwerken hervorgegangen, genauso wie den Professionen selbst kirchliche Hierarchien Modell standen. In Britannien wurden aus den Badern des 19. Jahrhunderts, immerhin den Granden der Londoner Harley Street, per Gesetzesakt von 1858 offiziell »Ärzte« – ihre Geschicklichkeit als Knochenklempner, Heilgehilfe oder Kräuterkenner wurde durch die »grandfather clause« (eine Art Altfallklausel) in eine allgemeine »medizinische Profession« umgewandelt. Als Mediziner (die sie nun alle waren) und obwohl ihnen aufgrund ihres Handwerks weitreichende Autonomie zugestanden blieb, wurden sie zwar Gegenstand staatlicher Regulierung, aber infolgedessen auch geschützt und im Ansehen aufgewertet. Dies galt insbesondere für die beruflichen Prüfungsverfahren, als deren Resultat sie sich selbst als Ärzte bezeichnen durften. Die Parallelen zur Etablierung eines staatlich regulierten psychotherapeutischen Berufsstandes sind frappierend.Ein Jahrhundert später, nach zahlreichen medizinischen Skandalen, ist die ärztliche Praxis in Großbritannien und weltweit verstärkt der öffentlichen Kontrolle und externer Überprüfung ausgesetzt. Diese weitere Veränderung bedeutet eine gewisse De-Professionalisierung, weil medizinisches Arbeiten in technische Abläufe aufgespalten wird, die genau definiert, operationalisiert und quasi unpersönlich durchgeführt werden – im Fall medizinischer Robotertechnik im wörtlichen Sinne. Vielen erscheint dies als Verlust wesentlicher Bestandteile – der Einzigartigkeit der ArztPatient-Beziehung, ganzheitlicher Ansätze, die physische, emotionale und spirituelle Aspekte der Persönlichkeit umfassen, lebenslanger Betreuung und Versorgung sowie der Rolle des Arztes als Begleiter wiederkehrender existentieller Themen wie Empfängnis, Geburt, Wachstum und Entwicklung, Sexualität, Trauma, Krankheit, Tod und Erneuerung. Psychotherapie ist die natürliche Heimat für das, was in gesellschaftlichen Spaltungs- und Verdrängungsprozessen verlorenging. Aber in eine öffentliche Rolle gedrängt zu werden kommt für die Psychotherapie einem Dilemma gleich. Einerseits muss sie sich in ihrem Ethos als Vorkämpferin und Verfechterin der individuellen Lebensgeschichte und des Heilungspotentials von menschlichen Beziehungen selbst treu bleiben. Andererseits strebt sie auf ihrem Weg von »handwerklicher Heimarbeit« zur eigenständigen Profession nach öffentlicher Anerkennung, Kostenübernahme durch den Staat (dem »Geld des Steuerzahlers«) und dem damit einhergehenden Glaubwürdigkeitszuwachs. Das hohe Ansehen der mit »der Medizin verbündeten Berufszweige« erfordert, sich deren Werte und Methoden anzunehmen. Kognitive Verhaltenstherapie (VT) hat sich erfolgreich an dieses »medizinische Modell« angepasst. Ihr Ansehen als »evidenzbasierte Behandlung« von psychischen »Störungen« kommt dem eines guten Medikaments gleich, und dennoch bleibt sie dem gemeinsamen Aufbau der therapeutischen Beziehung verpflichtet. Dies wiederum hat zu weiteren Spaltungen und zu Projektionen innerhalb der Psychotherapie geführt. Während VT mehr und mehr standardisiert und zum Pauschalangebot wird, erfährt das Unbewusste als Ort alles Unzumutbaren, Unaussprechlichen und Beschämenden eine Zuschreibung als das »Andere«, als irrelevant für eine psychotherapeutische Behandlung. Geduldige Auseinandersetzung mit Schmerz und Leid wird über Bord geworfen zugunsten oberflächlicher Lösungen, mit ständigem Risiko eines Rückfalls. Die Verwerfungen eines von Trauma und Vernachlässigung gezeichneten Lebensweges, die angeblich zur Charakterbildung beitragen, werden übersehen oder als nicht erreichbar oder nicht heilbar bezeichnet. Genau hier liegt nach wie vor das Tätigkeitsfeld psychoanalytischer Psychotherapie. Ein breiter angelegtes Ziel meines Buches ist daher – über eine Einladung zum Dialog mit Kollegen über die Berührungspunkte von Psychoanalyse und Bindung hinausgehend –, mit der psychotherapeutischen Zunft einen Denkprozess zur Rolle von Psychoanalyse anzustoßen und den Diskursrahmen dafür abzustecken. Es kann in diesem Sinne als Beitrag zur Debatte über die »gemeinsame Sprache der verschiedenen Therapieschulen« (vgl. Holmes und Bateman 2002) verstanden werden, indem es die implizite »Sprache des Denkens« (Cheney und Seyfahrt 2007) ergründet, die sowohl der psychoanalytischen Schule als auch dem Dialekt, der eines jeden Therapeuten Mundart ist, zugrunde liegt. Zur Methodik und Struktur Die Ursprünge dieses Buches sind in einer Kombination aus theoretischer Synthese und Mutmaßungen, angestellt über Beobachtungen im Behandlungszimmer, zu suchen. Ich greife, wann immer möglich, auf relevante Forschungsergebnisse zurück. Genauso wie Psychoanalyse und Bindungstheorie, so sind auch Theorien und Ergebnisse aus der Primatenverhaltensforschung, Kinderentwicklungspsychologie und gelegentlich der Neurowissenschaft eingeflossen. Ein Hauptanliegen ist es mir zu vermitteln, wie hilfreich das Denken im Bindungsrahmen für die psychoanalytische Arbeit sein kann. Kein theoretisches Modell, mag es noch so gut fundiert sein, wird je das Geschehen im Behandlungszimmer vollständig erfassen können. Der Therapeut trägt sein eigenes implizites Ethos in die therapeutische Beziehung hinein, das sich aus folgenden Bestandteilen zusammensetzt: Respekt, Aufmerksamkeit, Bestätigung, Verschwiegenheit, Spontaneität, Vertrauen, Wertschätzung des Ausdrucks emotionaler Authentizität, Wahrung von Grenzen und das Eingestehen von Fehlern sowie der Pflicht, diese zu beheben. Bindung kann bei der Konzeptualisierung einiger dieser Komponenten hilfreich sein, aber im Grunde sind Therapeut und Patient mit ihrer Beziehung zueinander und mit den menschlichen Qualitäten, die daraus hervorgehen, auf sich allein gestellt. Es gehört zum Genius der psychoanalytischen Psychotherapie, einer Beziehung Grenzen zu setzen, um mit der Kreativität, die gerade mit diesen Grenzen einhergeht, und den aus ihnen resultierenden Beschränkungen zu arbeiten. Da ich beide Perspektiven, theoretische Verankerung wie auch Unwägbares, einbeziehe, lässt sich die Methodik des Buchs als »klinische Vignette und ihr Kontrapunkt« verdichten. Der Begriff »Vignette« stammt vom französischen vigne, Weinrebe; die leeren Räume auf Buchseiten wurden einst mit gemalten Trauben und Weinblättern ausgefüllt und ausgeschmückt. Psychotherapie beschäftigt sich auf ganz spezielle Weise mit der unausgesprochenen Wahrheit, mit den »leeren Räumen« oder mit dem, was im offiziellen Text einer Lebensgeschichte nur zwischen den Zeilen steht. Diese psychischen Räume zu füllen ist eines der psychoanalytischen Hauptanliegen.Und doch erweist sich die »Fallgeschichte« aus methodischen, theoretischen und ethischen Gründen als intrinsisch problematisch. Methodisch gibt es keine Garantie, dass das berichtete Material und die übermittelten Gespräche akkurat sind – das typische Chaos einer Konsultation ist allzu leicht beim Nacherzählen zu kaschieren oder gar wegzuretuschieren. Klinisches Material kann man immer sehr unterschiedlich interpretieren. Ich möchte erreichen, dass der Blick durch die Bindungs»brille« den klinischen Diskurs nutzbringend erweitert. Außerdem behaupte ich, dass Bindung zur breiteren theoretischen Rechtfertigung der »Polysemie« – der Vieldeutigkeit – psychoanalytischer Theoriebildung beiträgt. Darüber hinaus ist die Schweigepflicht ein schwer zu lösendes Problem, das in vielerlei Hinsicht bewältigt werden kann, inklusive grober Maskierung; als reine Fiktion (falls es so etwas wirklich geben sollte); als Vermengung mehrerer Fälle; nach vorherigem Einverständnis (Gabbard 2000) und durch Verwenden von schon veröffentlichtem Material. Das Buch besteht aus zwei Teilen. In Teil 1 stecke ich den theoretischen Rahmen von bindungsfundierter psychoanalytischer Psychotherapie samt dazugehörigen Forschungsergebnissen ab. Nach einem Einführungskapitel gehe ich zum Hauptthema des Buches über: Mentalisieren als ein Metakonzept und die Schlussfolgerungen, die sich daraus für die klinische Arbeit ergeben. In den nächsten drei Kapiteln trage ich den drei Hauptkomponenten aller effektiven Therapien Rechnung – der Etablierung einer therapeutischen Beziehung, dem Verstehen sinnhafter Zusammenhänge und dem Ermöglichen von psychischer Veränderung oder Heilung – im Kontext des hier vertretenen bindungsfundierten Ansatzes. In den Kapiteln 6 und 7 setze ich mich mit zwei weiteren Kernkonzepten auseinander: mit der Selbstbefähigung des Klienten und mit Brüchen der Therapeut-Patient-Beziehung, auch mit deren Reparatur. In Kapitel 8, das eine Art Übergang sein soll, ergründe ich die Analogie zwischen Psychotherapie und Poesie. In Teil 2 – »Praxis« - greife ich diese theoretischen Abhandlungen auf und führe sie einigen klinischen Themen zu: Sex und Sexualität, der Arbeit mit komplexen Fällen und schwergestörten Patienten, Suizid, Träumen und dem Beenden von Therapie. Durchgehendes Ziel ist dabei, Theorie, relevante Ergebnisse aus der Forschung und die Erfahrungen aus dem Behandlungszimmer zu verknüpfen. Hier ändert sich der Tonfall, wird persönlicher und mag mitunter an eine Abschiedsrede erinnern, die meinen Rückzug aus psychiatrischer und die Hinwendung zu psychotherapeutischer Arbeit und Lehrtätigkeit widerspiegelt. Aufgrund meiner psychiatrischen Herkunft werden wohl einige geschilderte Fälle weit über das hinausgehen, was man in einer psychotherapeutischen Praxis sonst zu sehen bekommt. Allgemeine psychotherapeutische Praxis Psychoanalytische Theorien können auf merkwürdige Weise ihrem Kontext enthoben sein. Aspekte wie Vermögen, Klassenzugehörigkeit, Geschlecht, ethnische Herkunft und sozialer Bezugsrahmen werden, mit ehrbaren Ausnahmen (Dalal 2002; Ruiz et al. 2005), an den Rand dessen gedrängt, was mitunter als abstrakter, immer gleicher psychoanalytischer Raum präsentiert wird. Da ich der systemischen (und marxistischen) Sichtweise anhänge, dass »materielle Bedingungen« – also der Kontext – das Bewusstsein determinieren, sollte ich zunächst über die generelle Arbeitsweise berichten, mit der ich dieses Buch verfasst habe. Sie bildet zugleich die Basis für die völlig verfremdeten klinischen Fallgeschichten, deren lebendigen Vorbildern ich zu großem Dank verpflichtet bin. Ich definiere meine Arbeitsweise, im öffentlichen wie auch privaten Bereich, als »allgemeine Psychotherapie« analog zur »Allgemeinpraxis« in der Medizin: das heißt, als einen nicht hoch-spezialisierten Ansatz mit einem Zugang, der allen offen steht. Einer allgemeinen psychotherapeutischen Praxis, wie ich sie sehe, liegt ein besonderes Verständnis von Diagnose, Behandlungsdauer, Technik und Frequenz zugrunde. Dies umfasst:- die Arbeit mit einer Bandbreite von Klienten (ich verwende die Begriffe »Klient« und »Patient« synonym, ebenso er/sie), angefangen von Ratsuchenden auf hohem Funktionsniveau mit Beziehungsproblemen bis hin zu Patienten mit schweren psychischen Störungen- Therapien verschiedener Dauer, von kurz über mittel (bis zu einem Jahr) hin zu lang andauernd (mein derzeitiger Rekord liegt bei 22 Jahren)- das Bestreben, deutende und stützende Ansätze in einem ausgewogenem Verhältnis heranzuziehen- hauptsächlich psychoanalytische Techniken zu verwenden, aber hin und wieder auch auf Elemente anderer Disziplinen zurückzugreifen wie etwa auf das vom Psychodrama inspirierte Rollenspiel und an die Verhaltenstherapie angelehnte Konfrontationen und Hausaufgaben- die meisten Patienten einmal wöchentlich zu behandeln; einige zweimal pro Woche; einige, besonders gegen Therapieende, weniger häufig- vorwiegend mit Patienten individuell, aber gelegentlich auch mit Paaren und Familien zu arbeiten- in Ausnahmefällen medikamentöse Behandlung mit Psychotherapie zu kombinieren.Ich bin überzeugt, dass diese Behandlungsform nicht allzu weit von der Norm psychoanalytischer Psychotherapie abweicht. Aber die Antwort auf die Frage, ob der im Folgenden erörterte bindungsfundierte theoretische und praktische Ansatz allgemeine Schlussfolgerungen (für die Psychotherapie) zulässt, überlasse ich dem Leser selbst.TEIL 1 PRINZIPIENKAPITEL 1 MUTMASSENJeglicher Betätigung, ob intellektuell oder praktisch, liegt eine Ideologie zugrunde: eine Reihe von mehr oder weniger bewussten Grundüberzeugungen und Prinzipien. Diese als selbstverständlich betrachteten Fakten und Theorien bilden die Saat, aus der neue Ideen entstehen, die allerdings, wenn ungeprüft, kreatives Denken genauso einschränken können. Das Ziel dieses Einführungskapitels ist es, die diesem Buch eigenen Grundannahmen aufzuzeigen, also den Boden für alles Folgende zu bereiten. Ich beginne mit einer kurzen Übersicht für Leser, die mit der Bindungstheorie nicht vertraut sind (und einer Auffrischung zum Thema für die Eingeweihten), gefolgt von einer Kurzdarstellung der besonderen psychoanalytischen Sichtweise, die ich in diesem Buch vertrete. Ein sehr kurzer Abriss zur Geschichte der Bindungstheorie Die Geschichte der Bindungstheorie kann, besonders in Großbritannien, seit ihrem Beginn vor fast einem halben Jahrhundert, in drei Phasen unterteilt werden (umfassende Darstellung bei Cassidy und Shaver 2008). Der Ausgangspunkt für Bowlby (Großbritannien) und Ainsworth (zuerst in Uganda und später in Baltimore, USA) war zunächst die offenkundige und eigentümlicherweise von psychologischen Theoretikern übersehene Tatsache, dass Individuen jeglichen Alters die Nähe einer erfahrenen und Schutz bietenden »sicheren Basis« suchen, wenn sie sich bedroht, krank, erschöpft oder verletzbar fühlen, und dass andere Motivationssysteme - Sex, Exploration usw. – nicht zur Geltung kommen können, solange diese Bedürfnisse nicht befriedigt sind. Kinder und stark unter Druck stehende Erwachsene suchen dabei physische Nähe. Unter geringerem Stress und bei reiferer Persönlichkeit genügen mündliche Kommunikation (z. B. per Handy) oder visueller Kontakt (z. B. vermittels eines Photos). Mary Ainsworth entwickelte das Untersuchungsinstrument »Fremde Situation«, und damit konnten Forscher kurze Trennungen der Kleinkinder von ihren Betreuungspersonen beobachten und anschließend die Kinder nach ihrem Bindungsverhalten zwei allgemeinen Kategorien zuordnen: sicher und unsicher gebunden. Die letztere Gruppe wurde darüber hinaus anhand ihrer Verhaltensstrategien in deaktivierende (vormals vermeidende) und hyperaktivierende (vormals ambivalente) Reaktionsmuster unterteilt. Diese neue Nomenklatur stammt aus der amerikanischen Fragebogen-basierten Bindungsforschung, die sich mit jungen Erwachsenen und ihren Partnerbeziehungen befasst hat (Mikulincer und Shaver 2008). Langzeitstudien haben zudem gezeigt, dass diese Muster in der Kindheit und Adoleszenz relativ stabil sind; Kinder wechseln unter bestimmten Bedingungen auch in eine andere Klassifikation über (etwa wenn die Mutter unter Depressionen leidet: sicher zu unsicher; wenn sich die Lebensumstände der Mutter verbessern oder wenn sie sich in psychotherapeutische Behandlung begibt: unsicher zu sicher). Die zweite Phase in der Geschichte der Bindungstheorie, die mitunter als »Bewegung hin zur repräsentationalen Ebene« bezeichnet wird, begann mit den Arbeiten von Mary Main und ihren Kollegen an der Berkeley University (Main 1995). Bowlby und Mary Ainsworth hatten eine ethologisch beeinflusste Betrachtungsweise des Bindungsverhaltens eines Kindes und seiner Eltern vertreten; nun verlagerte sich die Forschungsmethode hin zum Erwachsenen-Bindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI), das Mary Main und Judith Solomon entwickelten. Es klas sifiziert die verbalen Beschreibungen eines Erwachsenen hinsichtlich seiner kindlichen Bindungserfahrungen, Verlusterlebnisse und Traumata. Das AAI erfasst anhand des narrativen Stils des Interviewten, wie er Beziehungen erlebt, über sie reflektiert, sie in Worte fasst – und sie damit repräsentiert. Einen weiteren wichtigen Beitrag leisteten Main und ihre Kollegen, als sie eine dritte Kategorie unsicherer Bindung identifizierten: unsicher-desorganisiert. Diese Bindungsart ist besonders durch hohen Stresspegel und stärkere psychische Beeinträchtigung bei den betroffenen Kindern wie auch ihren Betreuungspersonen gekennzeichnet (LyonsRuth und Jacobvitz 2008).Eine dritte Phase setzte in den 90er Jahren ein, als Peter Fonagy und Miriam und Howard Steele am University College London als erste eine Serie experimenteller, theoretischer und klinischer Studien durchführten. In einem prospektiven Studiendesign bestimmten sie mit dem AAI die bindungsbezogene mentale Verfasstheit bei zukünftigen Eltern und konnten gleichzeitig das Bindungsverhalten ihrer späteren Kinder in der Fremden Situation vorhersagen (Fonagy et al. 2002). Ihre Subskala »Reflexive Funktion« bezieht sich auf die Fähigkeit der Betreuungsperson, über das »Denken nachzudenken«: das heißt, a) die eigenen Gedanken und die ihrer Kinder als das anzusehen, was diese tatsächlich sind, und nicht notwendigerweise als akkurate Abbilder der Realität und b) andere als autonome Wesen zu begreifen, deren emotionale Regungen von Begehren, Wünschen, Überzeugungen geleit...
Jeremy Holmes, ist Psychiater, Psychoanalytiker und Visiting Professor an der Universität von Exeter/Großbritannien. Er ist Preisträger des renommierten Bowlby-Ainsworth-Awards für seine Beiträge zur Bindungsforschung.Klaus E. Grossmann, Dr. phil., Dipl.-Psych., Prof. emeritus seit 2003, Institut für Psychologie an der Universität Regensburg. Zusammen mit seiner Frau Karin Grossmann veröffentlichte er bei Klett-Cotta Bindung – das Gefüge psychischer Sicherheit und Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie.Tobias Nolte, MD, Arzt und Psychoanalytiker, ist klinisch-wissenschaftlicher Mitarbeiter am University College London und Senior Researcher am Anna Freud National Centre for Children and Families, London. Er arbeitet als Psychoanalytiker in eigener Praxis und ist Supervisor für mentalisierungsbasierte Therapie. Forschungsinteresse: Neurobildgebung von Mentalisierungsprozessen, Erforschung und Behandlung von Persönlichkeitsstörungen, epistemisches Vertrauen und frühe Mutter-Kind-Interaktionen.