Die drei gerechten Kammacher Die Leute von Seldwyla haben bewiesen, daß eine ganze Stadt von Ungerechten oder Leichtsinnigen zur Not fortbestehen kann im Wechsel der Zeiten und des Verkehrs; die drei Kammacher aber, daß nicht drei Gerechte lange unter einem Dache leben können, ohne sich in die Haare zu geraten. Es ist hier aber nicht die himmlische Gerechtigkeit gemeint oder die natürliche Gerechtigkeit des menschlichen Gewissens, sondern jene blutlose Gerechtigkeit, welche aus dem Vaterunser die Bitte gestrichen hat: Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unserm Schuldnern, weil sie keine Schulden macht und auch keine ausstehen hat; welche niemandem zuleid lebt, aber auch niemandem zu Gefallen, wohl arbeiten und erwerben, aber nichts ausgeben will und an der Arbeitstreue nur einen Nutzen, aber keine Freude findet. Solche Gerechte werfen keine Laternen ein aber sie zünden auch keine an, und kein Licht geht von ihnen aus; sie treiben allerlei Hantierung, und eine ist ihnen so gut wie die andere, wenn sie nur mit keiner Fährlichkeit verbunden ist; am liebsten siedeln sie sich dort an, wo viele Ungerechte in ihrem Sinne sind; denn sie untereinander, wenn keine solche zwischen ihnen wären, würden sich bald abreiben, wie Mühlsteine, zwischen denen kein Korn liegt. Wenn diese ein Unglück betrifft, so sind sie höchst verwundert und jammern, als ob sie am Spieße stäken, da sie doch niemandem was zuleid getan haben; denn sie betrachten die Welt als eine große wohlgesicherte Polizeianstalt, wo keiner eine Kontraventionsbuße zu fürchten braucht, wenn er vor seiner Tür fleißig kehrt, keine Blumentöpfe unverwahrt vor das Fenster stellt und kein Wasser aus demselben gießt.
Autor: | Keller, Gottfried |
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ISBN: | 9783257224948 |
Sprache: | Deutsch |
Produktart: | Kartoniert / Broschiert |
Verlag: | Diogenes |
Veröffentlicht: | 25.10.2002 |
Schlagworte: | Dichter Erzählungen Gottfried Keller Legenden Prosa Sammlung Schweizer SchriftstellerInnen; Werke (div.) Swissness Verstehen Züricher Novellen seldwyla |
Gottfried Keller, geboren 1819 in Zürich, war der wichtigste Schweizer Dichter des 19. Jahrhunderts. Nach einer erfolglosen Lehre als Kunstmaler schrieb er in Berlin seinen Lebensroman ¿Der grüne Heinrich¿. Er kehrte erneut nach Zürich und in die finanzielle Abhängigkeit von seiner Mutter zurück. Nach Jahren als Journalist und Gelegenheitsdichter wurde er Staatsschreiber. Abends saß er gern in Wirtshäusern, wo er seinem Temperament mit Krakeel und Gepolter Luft machte. Er starb nach langer Krankheit 1890 in Zürich.