Heinrich Bölls ‚Poesie des Geldes‘
Heinrich Böll hinterlässt – wie diese kulturkritische, ökonomisch reflektierte Studie demonstriert – mit seinen frühen Romanen Der Engel schwieg (1949-1951/1992), Billard um halb zehn (1959) und Ansichten eines Clowns (1963) eine ‚Poesie des Geldes‘, die an eine religiöse, mithin urchristliche ‚Ästhetik des Humanen‘ anknüpft. Er stellt in diesen Texten eine diachrone Betrachtung des Geldes und der Gabenpraxis an, geht kritisch mit verschiedenen Geldtheorien und Werteordnungen um und legt Mythenbildungen offen. Dabei wirft er einen kritischen Blick auf verschiedene Phasen der deutschen Wirtschaftsgeschichte: von der ersten Gründerzeit im Kaiserreich, dem Wirtschaftsaufschwung im Nationalsozialismus, der vermeintlichen „Stunde Null“ nach 1945 bis hin zum „Wirtschaftswunder“ in der jungen BRD. Böll bedient sich einer spezifischen literarischen Fortschreibung, der Verbindung von littérature engagée und l’ar¬gent engagée, und entwirft bereits zu diesem frühen Zeitpunkt sein Gegen¬modell, das das Thema Ökonomie wieder an die Wirtschaftsethik anzubinden sucht und explizit die Frage nach der Aufgabe der Kunst als einer „Poesie der Einmischung“ stellt. Simela Delianidou studierte Germanistik und Politikwissenschaften an der Universität Trier und promovierte dort 2001 mit einer Arbeit über „Frauen, Bilder und Projektionen von Weiblichkeit und das männliche Ich des Protagonisten in Franz Kafkas Romanfragmenten unter besonderer Berücksichtigung der Schuldfrage im Proceß“. 2003-2005 war sie als Lektorin im Fach Deutsch als Fremdsprache an der Universität Thessaliens in Volos (Griechenland) tätig. Von 2005 bis 2012 war sie Lecturer, seit 2012 ist sie Assistant Professorin für deutsch¬sprachige Literatur- und Kulturwissenschaften an der Abteilung für Deutsche Sprache und Philologie der Aristoteles Universität Thessaloniki (Griechenland) mit Arbeits¬schwer¬punkten rund um die deutschsprachige Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. INHALT I. MYTHEN DES GELDES 1 1. Einleitung: „l’argent pure – l’argent engagée“ 1 2. Mythen des Geldes 10 2.1 Was ist Geld? Annäherung Nr. 1: Instrumentale (neo)klassische Geldtheorie und ihre Grenzen 10 2.2 Was ist Geld? Annäherung Nr. 2: Desideratum kulturtheoretischer, kulturanth-ropologischer Geldtheorien 18 2.2.1 Karl Polanyi und Marcel Mauss: Gesellschaftsbildende Funktion der Ga-ben und des Geldes 21 2.2.2 Geldtheorien und Ethik 26 2.2.3 David Graeber: Geldtheorien und Schulden 28 2.2.4 Michel Foucault und Jean Baudrillard: Referenzwandel und Referenzlo-sigkeit des Geldes 33 II. ÖKONOMIE UND ÖKONOMIK ALS NARRATION: „STUNDE NULL“ DER WERTEORD-NUNGEN IN DER ENGEL SCHWIEG (1949-1951/1992)? 40 1. Verzögerte Publikationsgeschichte 40 2. Geld und andere Wertmaßstäbe: Differente Maßeinheiten und Werteordnungen als Medien von Kritik in der Trümmerliteratur nach 1945 45 2.1 Trümmerrealität 1945 in Zahlen 45 2.2 Tauschwert des Geldes und anderer Wertmaßstäbe: Der Schwarzhandel als Brennglas 48 2.3 Ökonomie und Literatur – Fiktionalität als Verbindung 53 2.4 Konfrontation differenter Werteordnungen – von Postkarten, Madonnen und Dreck/Schmutz 55 3. Geld versus Gabe: Außergewöhnliche Gabenpraktiken 63 3.1 Gabenpraktiken: ethisch-religiöse Werteordnung nicht nur der Vertreter*innen der „lebendigen Kirche“ als regressive Utopie 70 3.2 Gabe der Liebe: Lebensmut statt Todessehnsucht in der „Stunde Null“ 87 3.3 Außergewöhnliche Gabenpraktiken und Schulden: Das Opfer des Heldentodes 92 3.4 Geruch des Geldes: Blutspende, Geld und Blutgeld 95 3.5 Geruch der Armut und kritische Bewertung der Masse 101 4. „Wo Schweigen war, soll Literatur werden“: Blutspeiende Sterbende und schweigender Engel – (k)eine „Stunde Null“ der Werteordnungen 103 III. BILLARD UM HALB ZEHN (1959): VON GRÜNDERZEIT ZU GRÜNDERZEIT – VON DER UR-SCHULD ZUR DEUTSCHEN SCHULD 111 1. Ein wirtschaftshistorischer Generationenroman in der Adenauer-Ära 111 2. Die junge BRD: eine unsoziale Wohlstandsgesellschaft 116 2.1 Luxus in der Wohlstandsgesellschaft 117 2.2 Geld und Gaben: zwei Sorten Trinkgeld und Bestechung 120 2.3 Der kritische Blick des Exilanten auf die junge BRD: „eine fett gewordene alte Geliebte“ 124 3. (Wirtschafts-)historischer Generationenroman: Geld und Gaben in zwei Grün-derzeiten 127 3.1 Gründerzeit I – Der Großvater Heinrich als homo oeconomicus und homo lu-dens: Von der Selbstinszenierung, der lebenden Legende, dem lebenden Mythos bis hin zum steinernen Denkmal 128 3.2 Gründerzeit II – Der Sohn Robert als ethischer Spieler: Der Mythos des guten Hirten und dessen Gabe der alternativen Denkmäler 136 4. Von der Ur-Schuld zur deutschen Schuld: Schulden müssen beglichen werden – Johanna als Gabenspenderin, Hirtin und Racheengel 142 5. Neuorientierung (nicht nur) der Enkelgeneration: Aus der Vergangenheit lernen als Geschenk/Gabe des neuen Lebens 151 5.1 Das Geschenk der Adoption: Neuer Sippenbegriff in der Tradition der totalen sozialen Leistung 155 5.2 Neuorientierung der Enkelgeneration: Ideal menschlicher Gemeinschaft 158 IV. ANSICHTEN EINES CLOWNS (1963): MELANCHOLIKER, ANARCHIST ODER NUTZNIEßER DER KONSUMGESELLSCHAFT? 161 1. Fortschreibung der Themen Kunst und Ökonomie 161 2. Fortschreibung der sozialen Ungleichheit: Armut, Prekariat und Reichtum in der Klassengesellschaft der 1960er Jahre 165 3. Das Ende der reziproken Gabenpraxis 168 3.1 Restbestände caritativer Gabenpraxis 168 3.2 Problematische und deformierte Gaben in der Wohlstandsgesellschaft 170 3.3 Der gabenunfähige Individualist der Konsumgesellschaft 171 4. Die Dominanz des Geldes in der Wohlstands- und Leistungsgesellschaft 175 4.1 Geiz statt Großzügigkeit 175 4.2 Geld in der Leistungsgesellschaft: Ordnungssystem differenter Kapitalsorten und der homo oeconomicus 178 4.3 Hans als homo consumens: eine neue, subversive Form des Nonkonformismus? 186 5. Aufeinandertreffen divergenter Werteordnungen und Kunstkonzepte 191 5.1 Der Clown als Melancholiker: eine vielversprechende Künstlerfigur? 191 5.2 Die Gabe des Künstlers: Anarchie und Ästhetik des Humanen als Antidot ge-genüber dem Nihilismus 197 V. SCHLUSSWORT: BÖLLS ‚POESIE DES GELDES‘: FORTSCHREIBUNG VON „LITTERA-TURE ENGAGÉE“ UND „L’ARGENT ENGAGÉE“ 205 Literaturverzeichnis 212
Autor: | Delianidou, Simela |
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ISBN: | 9783989400634 |
Sprache: | Deutsch |
Seitenzahl: | 234 |
Produktart: | Kartoniert / Broschiert |
Verlag: | WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier |
Veröffentlicht: | 25.02.2025 |
Untertitel: | Geld und Gaben in ausgewählten Romanen |
Schlagworte: | Böll, Ansichten eines Clowns Böll, Billard um halb zehn Böll, Der Engel schwieg Geldtheorie Geld und Gaben bei Böll Heinrich Böll Nachkriegsliteratur Nachkriegszeit Wirtschaftsethik Ästherik des Humanen |