Gehirn und Gesellschaft
Nicht zuletzt lässt sich von der Hirnforschung lernen, was es bedeutet, in einer Gesellschaft zu leben, die vielfältige Beobachtungsperspektiven entwickelt hat. Der Hirndiskurs und die mit ihm verbundene Metaphorik erscheinen gleichsam als eine schillernde Vielheit, die jedoch zugleich in spezifischer Weise in die Differenzstruktur der Gesellschaft eingewoben ist. Der soziologische Beobachter kann hier entdecken, dass es keineswegs zufällig ist, wer das Gehirn wie und auf welche Weise beobachtet – sondern dass hier in einem tieferen Sinne ›System‹ und ›Gesellschaft‹ enthalten sind. In fünf Studien wird das Thema ›Gehirn und Gesellschaft‹ von verschiedenen Seiten beleuchtet. Die Anordnung der Arbeiten reflektiert ein Steigerungsverhältnis, entsprechend dem sich die Soziologie von Text zu Text in zunehmend komplexer Weise dem Dialog mit den Kognitions- und Hirnwissenschaften stellt. Während in der ersten Arbeit noch in soziologischer Manier auf die Diskurse der Hirnforschung draufgeschaut wird, wird die Soziologie in den folgenden Studien zunehmend selbst zum Thema. In der letzten Untersuchung erscheint sie schließlich so transparent und durchlässig, dass sich in der Begegnung zwischen Biologie und Soziologie etwas Drittes andeutet, das beide Disziplinen zu überschreiten scheint. Die Beziehung dieser Studien wird im abschließenden Epilog nochmals eingehender reflektiert, sodass die Gesamtkonzeption dieser Monografie nach erfolgter Lektüre in einer tieferen Weise sichtbar wird.
In ihren populären Varianten tritt die Hirnforschung mit dem Ziel an, das letzte Geheimnis des Menschen zu lüften. Aber könnte sich die Sache nicht vielleicht genau anders herum darstellen? Wäre es nicht möglich und aus guten Gründen wahrscheinlicher, dass die Hirnforschung, je mehr sie in ihren Auflösungsmöglichkeiten fortschreitet, einem neuen Geheimnis begegnen wird – nämlich der Verschränkung von Physis, Bewusstsein und Kommunikation? Deutet nicht jetzt schon einiges darauf hin, dass wir einer Eigendynamik vernetzter Netze begegnen, deren Verhalten jeglicher Kausalbeschreibung spottet, einer Welt in der sich die Grenzen von Bio-logie, Psychologie und Soziologie verflüssigen? – Dies ist übergreifende Ahnung, welche den hier vorgestellten fünf Studien zugrunde liegt. Unter dem Titel 'Die gesellschaftliche Reflexion der Hirnforschung' (I) geht es zunächst darum, die Prozesse der wechselseitigen Rezeption im Detail für die wichtigen gesellschaftlichen Funktionssysteme nachzuzeichnen. Es wird untersucht, wie sich Recht, Medizin, Politik, Erziehung, Massenmedien, Wirtschaft, Religion und Wissenschaft zu den Hirnwissenschaften in Beziehung setzen lassen. Wir begegnen hier komplexen Reflexionsverhältnissen, in denen jeweils aus einer bestimmten Beobachterperspektive eine spezifische Selektivität erzeugt wird, die für den jeweiligen Funktionsbezug konstitutiv ist. Die Hirnforschung wird hier sozusagen von verschiedenen relevanten Orten der Gesellschaft aus betrachtet. In der Zusammenschau der unterschiedlichen Horizonte lässt sich recht viel über die Reflexionsverhältnisse unserer Gesellschaft erfahren. Das Thema ›Gehirn‹ erscheint hier gleichsam als Tertium comparationis, über das sich die Binnenverhältnisse unserer Gesellschaft synoptisch darstellen lassen. Nicht nur, dass die Dinge je nach Kontext anders aussehen, sondern auch, dass jeder Ort der Beobachtung sein eigenes ›Subjekt‹ erzeugt. Nicht zuletzt kann auf diesem Wege auch die Frage beleuchtet werden, ob die Hirndiskurse andere Felder der Gesellschaft versklaven oder ob sie an der Differenzstruktur der Gesellschaft abprallen. In 'Figurationen der Subjekt-Objekt-Dichotomie' (II) wird der Diskurs der Hirnforschung im Hinblick auf die epistemische Problematik des Beobachters in einen größeren historischen Zusammenhang eingebettet. Wir treffen hier auf unterschiedliche Paradigmen und Lösungsversuche und begegnen abschließend einem Phänomen, das sich als ›eklektische Epistemologie‹ bezeichnen ließe: In den Publikationen durchaus namhafter Neurowissenschaftler zeigen sich zunehmende ›Kompositionen‹, in denen unterschiedliche, nicht miteinander zu vereinbarende Wissenskonfigurationen argumentativ kombiniert werden. Im Sinne einer soziologischen Reflexion geht es dabei weniger um eine Kritik an solchen epistemischen Flickenteppichen als vielmehr um die zeitdiagnostische Frage, ob sich die gegenwärtigen Diskurskulturen nicht schon längst in der Gleichzeitigkeit inkommensurabler Beobachtungsverhältnisse eingerichtet haben. In 'Symbolische Integration von Hirnwissen' (III) wird die Aufmerksamkeit auf die Wissenskonfiguratio-nen der Hirnforschung gelenkt. Dabei begegnen wir zunächst dem Befund, dass die Wissensproduktion der Hirn- und Kognitionsforscher in den letzten fünfzig Jahren zu einer schier unüberschaubaren Flut von Publikationen angewachsen ist. Zudem haben sich die Neurowissenschaften mittlerweile in eine Vielzahl von Subdisziplinen ausdifferenziert, welche aufgrund unterschiedlicher Forschungsparadigmen kaum noch zu einer sinnvollen Einheit integriert werden können. Angesichts dieser nahezu babylonischen Verhältnisse stellt sich die Frage, wie sich die Hirnforschung unter den gegebenen Verhältnissen noch als Gesamtprojekt darstellen kann. Die vierte Studie mit dem Titel 'Gefühl und Gesellschaft ' (IV) zielt primär auf die Beobachtungsverhältnisse der Soziologie. Als eigenständige wissenschaftliche Disziplin fand diese ihre Aufgabe vor allem darin, die Selbstreflexion der Gesellschaft zu bewirtschaften. Wenn nun aber biologische Selbstbeschreibungen ihrerseits vermehrt soziale Prozesse thematisieren, stellt sich die Frage nach der Kompossibilität der (neuro-)bio-logischen Beschreibungen mit den unterschiedlichen soziologischen Theorieangeboten. Als Exempel dient der Themenkomplex ›Gefühl und Emotionen‹, denn an kaum einem anderen Gegenstand lassen sich die Trennlinien wie auch Gemeinsamkeiten zwischen den unterschiedlichen Beobachterperspektiven deutlicher herauspräparieren. In der letzten Studie mit dem Titel 'Neurophänomenologie – oder das Bewusstsein als soziales Organ' (V) wird die Beziehung zwischen sozialen Systemen, Psyche und Gehirn an einem Beispiel nochmals intensiver ausgelotet. Wir stoßen hier auf eine neurowissenschaftliche Spitzenforschung, für welche sich die Grenzen zwischen neuronaler Dynamik, phänomenologischer Beschreibung und sozialer Dynamik immer mehr verwischen – und damit auf eine Anthropologie, die sich in boden-losen Verhältnissen gründet.
Autor: | Vogd, Werner |
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ISBN: | 9783938808801 |
Auflage: | 1 |
Sprache: | Deutsch |
Seitenzahl: | 424 |
Produktart: | Gebunden |
Verlag: | Velbrück |
Veröffentlicht: | 10.06.2010 |
Schlagworte: | Neurowissenschaften Soziologie Verhältnis von Sozialtheorie und Kognitionswissenschaft gesellschaftliche Reflexion von Hirnwissen |
Werner Vogd, geb. 1963 ist seit 2008 Professor auf dem Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Witten/Herdecke. Monographien (Auswahl): Rekonstruktive Organisationsforschung – Qualitative Methodologie und theoretische Integration, Opladen (2009); Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung – Versuch einer Brücke, Opladen (2007); Ärztliche Entscheidungsprozesse des Krankenhauses im Spannungsfeld von System- und Zweckrationalität, Berlin (2004) Radikaler Konstruktivismus und Theravada-Buddhismus: Ein systematischer Vergleich in Erkenntnistheorie und Ethik, Ulm (1996). Herausgegeben u.a. Moderne Mythen der Medizin (hg. mit Irmhild Saake)(2008).